zur ausstellungseröffnung
Aufgelesen

Dr. Nancy von Breska-Ficović



Kunst ist dazu da, den Staub des Alltags von der Seele zu waschen.
Pablo Picasso


Viele Dinge des Alltags werden trotz der täglichen Begegnung mit ihnen kaum wahrgenommen, weniges bleibt als erinnerungswürdig im Gedächtnis des Menschen hängen. Es gibt allerdings seltene Momente, die zum spontanen Innehalten und näheren Betrachten dieser Objekte einladen. Man erkennt dabei vielleicht erstmals ihre besondere Form, die Intensität ihrer Farben, die Geometrie der wiederkehrenden Muster oder die Symmetrie der Verzierungen.

Die Werke der Künstler Dett Peyskens und Burchard Vossmann, die in der Ausstellung Aufgelesen im Klattendiek das erste Mal aufeinandertreffen, ermöglichen dem Betrachter diesen besonderen Augenblick des Innehaltens und Wiedererkennens.

Aus weggeworfenem Papier, alten Zeitungen und Illustrierten, Bahn-Tickets und Schokoladenpapier gestaltet die Brüsseler Künstlerin Dett Peyskens Faltobjekte (in Form von Herrenhemd oder Kleid). Dabei ist das Motiv, das sie ins Zentrum ihrer Falt-Kunstwerke stellt, stets mit Bedacht gewählt. Die Liebe der Menschen zur Faltkunst ist eine sehr alte und geht zurück bis in die Antike. Dett Peyskens hat, ihrer eigenen Aussage zufolge, lange verschiedene Verfahren getestet, bis sie den richtigen Falt-Prozess fand. Mit einer speziell angefertigten Schablone wird der Ausschnitt begrenzt und markiert. Nach dem Ausschneiden wird das Falt-Objekt, stets nach gleicher Manier, präzise gefaltet. Für ein Kunstwerk wird dieser Prozess manchmal unzählige Male wiederholt. Die Faltobjekte können in verschiedenen Größen entstehen, meist jedoch in kleinerem Maßstab.

Peyskens reiht diese Miniaturen eine an die andere, reagiert spontan und kreativ auf die Gegebenheiten der jeweiligen Ausstellungs-Architektur. Die Kombinationen, die Peyskens wählt, sind manchmal rein ästhetisch, allein durch ihre Form, Farbe oder Grafik definiert. Manchmal ist es aber auch der Inhalt, der sie prägt. Es werden sowohl politische Themen berührt als auch mit Elementen der Pop-Kultur gespielt, die allgegenwärtige Werbung aufs Korn genommen oder ihre ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil umgekehrt.

Manchmal steht ein Falt-Objekt für sich allein und wirkt in seiner strengen Symmetrie und Einfachheit fast wie eine Skulptur (z. B. White Dress, White Shirt). Ein anderes Mal  entstehen abstrakt wirkende Gebilde wie etwa Apple Rosas, die einem gotischen Kathedralenfenster gleich – licht und leicht – an der Wand erscheint. Gefaltete Papier-Hemden und -Kleider wechseln sich ab, reihen sich in konzentrischen Kreisen um das zentrale Apfel-Motiv. Bei näherem Betrachten erkennt man, dass sich dieses Leitmotiv auch in allen anderen Falt-Objekten wiederholt. So entsteht eine spannende zweite Ebene, die sich neben der rein ästhetischen Wirkung dem Betrachter öffnet. Die Künstlerin spielt dabei mit der Ur-Symbolik des Apfels, dem Männlichen (das Hemd) und dem Weiblichen (das Kleid), der in dieser abstrakten Konstruktion in den Vordergrund tritt.

Die gefalteten Kunstwerke von Dett Peyskens sind grazil und fragil. Ihnen haftet das Vergängliche an – das Ephemere – das auch die menschliche Existenz prägt, auf die sie sich beziehen. Sie scheinen nicht für die Ewigkeit gemacht. Durch die Wahl des empfindlichen Materials (wie z.B. Zeitungspapier) und ihre dezente dreidimensionale Gestaltung sind die Objekte verletzlich. Kein Rahmen, kein Glas schützt sie vor der Außenwelt. Dafür können sie frei im Raum schweben, sind nicht etwa durch Vorstellungen der klassischen musealen Hängung begrenzt.

Der Berliner Künstler Burchard Vossmann verwendet und entfremdet ebenso Objekte aus dem Alltag.  Es handelt sich dabei um verlorene oder weggeworfene Konsumware, die er auf der Straße aufliest, zufällig findet. In seinem Archiv in Berlin türmen sich hunderte von Zigaretten- und  Streichholzschachteln, farbige transparente Einwegfeuerzeuge, allerlei internationale Fahrscheine, buntes osteuropäisches Bonbonpapier und Schnuller aus Plastik. Die Objekte wurden in aller Welt aufgelesen, oft mühsam und in großen Mengen vom Künstler allein oder gemeinsam mit einem Künstlerfreund während der sogenannten Citywalks zusammengetragen.

Für seine Materialbilder ordnet Vossmann die sich gleichenden Elemente zu  inspirierenden und den Betrachter manchmal irritierenden Kunstwerken. Die Reihung der zunächst identisch wirkenden Objekte beeindruckt durch unerwartete Brüche in der Regelmäßigkeit. Einzeln betrachtet, erkennt man die Einzigartigkeit des industriell gefertigten Objekts, geprägt durch unterschiedlichen Gebrauch (Striking Surface #2), Erhaltungszustand und/oder Lichteinwirkungen (Blue-Red 15-11). Der Künstler gibt den Materialbildern zwar einen physischen realen Rahmen, der sie hält und gleichzeitig begrenzt. Ihre Wirkung kann sich aber in den Augen des Betrachters durch die Reihung und Wiederholung unendlich weiter ausdehnen.

Burchard Vossmann sammelt auch internationale Briefmarken (Serie Shredded Icons), Geldscheine (z.B. D-Mark Scheine und US Dollarnoten) und Schallplattencover (Serie Shredded Cover, 2014). Es sind  oft Sammlerstücke – wie etwa die Schallplatten aus dem Berliner Club Dschungel – die sehr wertvoll sein können. Sie werden jedoch nicht als Sammlerstück vom Künstler behalten und erhalten, sondern vielmehr als Rohstoff zur Weiterverarbeitung verwendet. Unglaublich große Mengen nahezu identischer Einzelteile werden mithilfe von Aktenvernichtern zu feinen Streifen zerkleinert. Anschließend setzt Vossmann sie präzise zu neuen grafischen, streng vertikal oder horizontal ausgerichteten Strukturen zusammen. Es entsteht Shred-Art, ein von Vossman Anfang des Milleniums geprägter Kunstbegriff.

Seine Collagen lösen beim Betrachter persönliche Assoziationen aus und wecken nostalgische Erinnerungen (z.B. Plattencover von Beatles, Police oder David Bowie). Die gleichzeitige Entfremdung des Ausgangsmaterials und deren Überhöhung durch die neuartige künstlerische Zusammensetzung verwirren zunächst - man ahnt etwas, aber gleichzeitig erkennt man es nicht wieder. Wenn das Erkennen einsetzt, ist der Betrachter erfreut über die Entdeckung des Vertrauten. Vossmanns Motive und Themen sind vielfältig, können eine verspielte Ästhetik entfalten (z.B. Bonbonpapier) oder aber sehr politisch und kritisch sein (z.B. Dollarnoten und Briefmarken).

Vossmann und Peyskens erkennen das Besondere im Alltäglichen und verleihen dem Objekt ihrer Kunst gleichsam ein zweites Leben, fernab des Alltags. Jeder der beiden Künstler schafft dies auf seine besondere Weise. Dabei beschreiten beide deutlich unterschiedliche Wege, um zum gewünschten Resultat zu gelangen.

Beider Kunst findet ihre Inspiration in den künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Künstler wie Picasso und Braque haben damals Revolutionäres gewagt und das Alltägliche auf das Podest der künstlerischen Darstellung erhoben. Dies war unerhört und schockierend zugleich. Bereits ihre ersten Collagen und Montagen des analytischen Kubismus erzeugten zunächst Befremden und alsbald Wiedererkennen. In einer Art Künstlerdialog mit Ausschnitten aus Illustrierten, Werbung und Bruchstücken von Alltagsgegenständen verwiesen sie spielerisch und kritisch aufeinander. Weitere tiefgreifende  Auseinandersetzungen mit Wort und Bild in der Kunst der Dadaisten führten zu provozierenden Collagen aus Zeitungsausschnitten, Reklame und Abfall, wie etwa bei Kurt Schwitters. In der Reihe der Vorläufer dürfen auch die Vertreter des Nouveau Realisme, wie Arman mit seinen Akkumulationen – Reihungen von unverändert belassenen oder zerstörten Gegenständen mit gleicher Funktion – nicht fehlen. Nicht zuletzt Pop Art und der Minimalismus der siebziger Jahre haben die künstlerische Produktion und den Fokus der beiden im Bremer Klattendiek vertretenen Künstler beeinflusst.

Wie Burchard Vossmann richtig vermerkt,  sie sind alle (…) Väter und Mütter der heutigen Künstlergeneration, ohne die unsere Arbeit überhaupt nicht möglich wäre.1

[1] Siehe Petra Coronato zu Burchard Vossmann, Text - Berlin 2009, s. (16)


              

                  
Peyskens, Vossmann, Tuschen, von Breska

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